Der Fluch von Gárbeth

Cover des Buches Der Fluch von Gárbeth
Cover des Buches Der Fluch von Gárbeth
Dezember 2017
188
978-3746034874

 

Von der Schlacht bleibt Kvanaghs Dorf verschont, doch als der Feind sich über die Grenze rettet, stürzt eine gewaltige Flutwelle zu Tal und reißt alles mit sich, was ihr im Weg steht. Es gibt nur eine Erklärung: Die fliehenden Soldaten haben den Staudamm am Pass von Gárbeth zerstört! Ein Teil der Ernte ist vernichtet, und es bleibt wenig Zeit, das Übrige zu retten und die Schäden zu beseitigen, ehe der Winter kommt. Doch so sehr sich die Menschen bemühen, immer wieder werfen plötzliche Unwetter sie zurück und machen die Arbeit von Stunden und Tagen wieder zunichte. Immer mehr wird zur Gewissheit: Hier wirkt eine Macht, die mit irdischen Maßstäben nicht zu fassen ist.

Ebook €2,49
Taschenbuch €7,90

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Das Buch gehört zur Serie Der Mann, der den Hunger befahl

Autorenplauderei

Der Fluch von Gárbeth ist die zweite gemeinsame Veröffentlichung von Martin Felsesbach und mir. Martin zeichnet diesmal auch für das Foto verantwortlich, das die Grundlage für das Cover bildet. Es war einfach ein schönes Motiv, das ihm da beim Wandern begegnet ist, wie gut sich dieses Motiv auch für unser Buch eignet, ist uns erst später aufgefallen, als wir uns die Fotos gemeinsam angeschaut haben.

Vorwort

Irgendwas stimmte nicht, und das schon seit Tagen. Auf der Suche nach der Quelle seiner Unruhe ließ der Drache den Blick über den Horizont streifen. Dass die Menschen unten im Tal einmal mehr gegenseitig ihre Lebensgrundlage zerstörten, um Gebietsansprüche durchzusetzen oder Steuerquellen zu gewinnen, wie sie es nannten, konnte es allein nicht sein. Das taten sie schließlich ständig, Neid und Gedankenlosigkeit waren Worte, die der Drache für das fand, wofür Unzählige unnütz alles, was ihnen lieb war, und oft auch das Leben verloren.

Immerhin, ging es ihm durch den Kopf, gab es hoffnungsvolle Ausnahmen, auch im Dorf unter ihm lebten zwei noch junge Menschen, die früh verstanden hatte, dass nur Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung etwas bewegen konnten. Aus ihnen konnte wirklich etwas werden.

Unvermittelt spürte er eine Welle von Energie, unzweifelhaft das Ergebnis starker Magie. Zu starker Magie, denn kein Lebewesen, das hier seine Heimat hatte, nichts, was er je hier gesehen hatte, konnte so starke Magie wirken. Der Drache änderte seine Flugrichtung und schoss durch die Wolken dorthin, wo er den Ursprung der Energiequelle vermutete, doch alles, was er dort fand, waren die Überreste einer heftigen kriegerischen Auseinandersetzung, Leichen, zerstörtes Gerät und ein eingerissener Staudamm.

Die Art des gewirkten Zaubers ließ sich daraus nicht mehr ablesen, es gab nur die Energie, die dabei in die Umgebung abgestrahlt worden war und sich immer noch erhielt. Genau genommen musste der Zauber nicht einmal etwas mit der Schlacht unten zu tun gehabt haben, auch wenn der Verdacht sich natürlich aufdrängte. Der Drache forschte mehr als eine Stunde lang nach, auch in der Umgebung des Schlachtfelds hoch in den Bergen, fand aber nichts und niemandem, dem er eine Magie der gespürten Stärke zutrauen durfte. Entweder hatte sich derjenige in seinem Zauber aufgelöst, ein typischer Fehler für Menschen, die magisch begabt waren, ohne ihre Kraft ausreichend einschätzen zu können, oder aber der Zauber diente dem Transport desjenigen, der ihn gewirkt hatte, dann wäre alles nach Plan verlaufen, und der Wirkende konnte inzwischen überall sein.

Während die erste Möglichkeit jede weitere Gefahr zumindest von Seiten dieser Person ausschloss, war die zweite eher beunruhigend. Um die Sache auf sich beruhen zu lassen, war es auf jeden Fall noch zu früh, und der Drache wollte auch nicht abwarten, bis die Antwort auf den Zweck des unbekannten Zaubers über die Welt hereinbrach. Weil er wusste, dass es am Ende ein großer Vorteil sein konnte, wenn ihn niemand auf der Rechnung hatte, beschloss er jedoch, vorerst nicht selbst in Erscheinung zu treten, sondern die beiden jungen Menschen, an die er eben noch gedacht hatte, als Beobachter zu ensenden. Jore und Meira verfügten über Fähigkeiten, die anderen Menschen nicht hatten, ein überaus gutes Urteilsvermögen und eine Lebenserfahrung die weit über die manch alten Mannes hinausging. Ihnen konnte er vertrauen, und sie würden verhindern, dass die Menschen am Ende ihn für ihr selbstverursachtes Unglück verantwortlich machten; damit hatten sie schon einmal unvorstellbares Unglück über sich gebracht, und er hatte sich vrogenommen, so etwas auf keinen Fall noch einmal zuzulassen.

 

Jore wurde von den ersten Sonnenstrahlen geweckt und hatte mit dem Öffnen der Augen schon den ersten Fuß aus dem Bett. Das Frühstück war schon vorbereitet, dafür hatte er am Abend schon gesorgt, um jetzt Zeit zu sparen. Er wollte sein Arbeitspensum in der Mine möglichst früh geschafft haben, um anschließend seiner Freundin Meira auf dem Hof helfen zu können. Normalerweise arbeiteten sie gemeinsam in der Mine, aber im Moment wurde auf dem Hof jede Hand gebraucht. Auch Jores Pensum in der Mine war verkürzt, seit sein Vater die Strafe für seine Untaten verbüßte, führte seine älteste Schwester zusammen mit ihrem Mann den elterlichen Hof, und Jore und Meira wechselten sich damit ab, auf den Hof der jeweils anderen Familie zu helfen. Sie waren harte Arbeit gewöhnt, aber wenn sie konnten, dann versuchten sie doch, sich Zeit freizumachen für sich selbst oder um sich mit den anderen Kindern des Dorfes zu treffen.

Auf dem Weg zur Mine kam Jore zwangsweise am Hof von Meira vorbei. Die Läden vor dem Fenster, hinter dem sie ihre Schlafstube hatte, waren noch geschlossen, aber durch die schmalen Ritzen konnte Jore einen Schatten erkennen, der sie bewegte. Meira war also auch schon wach.

Normalerweise wäre Jore trotzdem weitergegangen, für mehr als einen flüchtigen Gruß wäre ohnehin keine Zeit gewesen, wenn er nicht die erhoffte gemeinsame Zeit ohne Pflichten am Abend gefährden wollte, aber irgendwas störte das Gesamtbild, ohne dass er auf Anhieb sagen konnte, was. Erst als er genauer nachschaute, wurde ihm klar, dass es die Fußspuren neben Meiras Fenster waren, Abdrücke großer, krallenbewehrter Füße, deren Abstand zueinander von einer gigantischen Größe des Verursachers zeugten. Da brauchte Jore nicht lange zu überlegen, wer diese Abdrücke hinterlassen hatte, es gab nur ein Wesen, das dafür in Frage kam: Ser-Aloi.

Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, dass der Herr des Berges ein Zeichen gab, oder ob es der Vorbote schlechter Nachrichten war. Ob Meira etwas wusste? Immerhin war es Meiras Fenster, vor dem die Abdrücke zu sehen waren, und es würde Ser-Aloi nicht schwer gefallen sein, sie zu wecken, ohne dass sonst jemand etwas merkte. Allerdings hätte Meira in diesem Fall darauf geachtet, ihn, Jore, nicht zu verpassen, wenn sie nicht gleich zu ihm gekommen wäre, deshalb nahm Jore an, dass sie noch ahnungslos war.

Der Gruß des Nachtwächters riss Jore aus seinen Überlegungen. „Mal wieder früh unterwegs, wie?“ „Sagt der, der ins Bett geht, wenn andere aufstehen“, scherzte Jore. „Hattest du eine ruhige Nacht?“ „Geht“, antwortete der Wächter. „Einmal hat eine Katze Radau gemacht, irgendwo in den Wiesen hinter eurem Hof, aber zu sehen war nichts, und sonst war Ruhe.“ „Vielleicht Revierkämpfe“, behauptete Jore. „Kennt man ja.“ Die Katze hatte vermutlich einen guten Grund gehabt, sich aufzuregen, und er hatte den Verdacht, dass Ser-Aloi eigentlich oder auch ihm einen Besuch hatte abstatten wollen, sich aber wegen des Nachtwächters anders entschieden hatte.

Durch die Arbeit bedingt hatte Jore erst am Abend Gelegenheit, unter vier Augen mit Meira zu sprechen. In die Mine ging sie derzeit ja nicht, und auf dem Feld waren immer auch andere in Hörweite gewesen, und was auch immer Ser-Aloi dazu getrieben hatte, ins Dorf zu kommen, es wäre sicher nicht in seinem Sinne gewesen, wenn sein nächtlicher Besuch publik wurde. Er erzählte Meira, was er gesehen hatte, und sie versicherte ihm, dass sie nichts von Ser-Alois Anwesenheit gemerkt hatte. Natürlich hätte sie Jore andernfalls gleich geweckt, das musste sie nicht eigens betonen, und dass sie auch die Spuren vor ihrem Fenster nicht bemerkt hatte, wunderte ihn nicht weiter. Man brauchte schon gute Augen, um sie zu sehen, möglicherweise war er der einzige, dessen Augen so beschaffen waren, dass er sie sehen konnte.

Sein scharfer Blick war es auch, der Ser-Alois Hinterlassenschaft entdeckte, eine ledrige, dunkelgrüne Drachenschuppe, aber selbst er musste eine Weile suchen, bis er sie zwischen den Leisten des rechten Fensterladens entdeckte. Der Laden bestand aus einem inneren und äußeren Rahmen, die gemeinsam die dünnen Querleisten hielten, und genau zwischen diese Rahmen hatte Ser-Aloi oben die Schuppe geschoben.

Rasch verbarg Meira den Fund unter ihrer Kleidung, denn es war klar, dass niemand sonst ihn sehen durfte. „Lass uns zum Fluss gehen!“, schlug sie vor. „Dort sind wir ungestört.“ Das wussten sie aus Erfahrung, sie kannten die Ecken, die außer ihnen niemanden interessierten, und Jores Gehör war in den Jahren, in dem es sein wichtigster Sinn gewesen war, so geschult worden, dass es schlichtweg unmöglich war, sich ihm durch das Unterholz bis auf Hörweite zu nähern, ohne dass er es hörte.

Doch auf den ersten Blick wirkte die Schuppe in keiner Weise ungewöhnlich, das Einzige, was Jore auffiel, war, dass Ser-Aloi sie nicht in Hektik ausgerissen oder in einem Kampf verloren hatte; dafür war die Abrissstelle zu gleichmäßig. War die Schuppe ein Hinweis, zu ihm zu kommen? Irgendeine Prüfung? Einfach ein Geschenk zwischendurch, damit sie ihn nicht vergaßen? „Nimm du sie!“, bat Jore seine Gefährtin. „Bei mir ist die Gefahr zu groß, dass jemand sie findet.“ Er teilte sich die Schlafstube jetzt, nachdem der Vater nicht mehr im Haus wohnte, mit drei Schwestern, weil der Mann seiner ältesten Schwester mit in die Stube gezogen war, die sich vorher Jores beiden älteren Schwestern geteilt hatten, da gab es einfach kein Versteck, dass die Mädchen nicht zufällig finden konnten.

Er wollte noch einmal kurz über die Schuppe streichen, während er sie Meira zurückgab, und es war dieser Moment, in beide die Schuppe mit beiden Händen berührten, als auf der Innenseite eine Inschrift erschien. Mit Tinte geschrieben war sie nicht, eher überaus präziese eingebrannt, und offenbar mit einem Zauber belegt, der dafür gesorgt hatte, dass sie erst sichtbar geworden war, als Jore und Meira allein gewesen waren.

 

Das Dorf am Fuß des Passes von Garbéth braucht dringend eure Hilfe. Es gab eine Schlacht, und irgendetwas, das sich nicht richtig greifen lässt. Geht dorthin, helft, wo ihr könnt, und haltet die Augen auf. Ich will versuchen, euch so gut wie möglich zu unterstützen, aber es scheint mir besser, mich zu diesem Zeitpunkt nicht zu zeigen.

 

Jore, der den Brief – denn nichts anderes war es – leise vorgelesen hatte, ließ die Hand mit der Schuppe sinken. „Wir brechen sofort auf, oder?“, sagte er, und Meira nickte schlicht.

 

I

Die Berge von Feyn lagen dort, wo das Reich Albeit im Westen endete. Schon vor hunderten von Jahren war die höchste Kette des Gebirges als Grenze festgelegt worden, doch nie hatte sie für mehr als ein paar Sommer und Winter Ruhe gefunden. Die fruchtbaren Täler auf der Seite Albeits weckten immer wieder das Begehren der Könige des benachbarten Reichs Onyl, denn die Dörfer dort hatten ihr Auskommen und standen für gute, verlässliche Steuereinnahmen. Die westliche Seite dagegen warf kaum etwas ab, die hohen Berge waren auch Wetterscheide, und die wenigen Menschen, die auf der Seite Onyls in den Bergen siedelten, konnten den kargen, trockenen Böden nur gerade eben abringen, was sie zum Leben brauchten.

Es gab nur wenige Wege, die über die Grenze führten, und der wichtigste war der Pass von Gárbeth, ein steiniger Pfad, der sich durch den tiefsten Einschnitt der Bergkette wand. Es war auch der einzige, der breit und fest genug war, um ihn mit vielen Männern und schweren Lasten zu gehen, deshalb hatte König Celtern von Onyl keine Wahl, als seine Soldaten dort entlang zu schicken, wenn er den Angriff auf Albeit wagte. Natürlich wusste König Archal von Albeit um die Gefahr, aber die Passhöhe war schwer zu sichern. Die Gegebenheiten machten es unmöglich, dort eine Festung zu errichten und so viele Soldaten zu versorgen, wie nötig gewesen wären, um den Überweg zu verteidigen. Um sein Land nicht völlig ungeschützt zu lassen, hatte König Archal im Tal eine Feste bauen lassen und eine Garnison aus bergerfahrenen Soldaten stationiert, die Angreifer aus dem Nachbarreich abfangen und zurück über die Grenze treiben sollte.

Wie oft König Celtern versuchte, sein Reich um die fruchtbaren Täler zu erweitern, konnte man erahnen, wenn man die Jugend der Dörfer fragte, welche kriegerischen Ereignisse sie in ihrem Leben schon gesehen hatten. Kvanagh, Sohn des Dorfvorstehers im letzten Dorf vor dem Anstieg, erlebte seinen siebzehnten Sommer, und er konnte sich an drei große Schlachten erinnern, die in der Nähe getobt hatten. Einmal hatte es einen Überfall in den ersten Frühlingstagen gegeben, und die Soldaten König Archals hatten die Eindringlinge erst zur Mitte des Sommers wieder vertreiben können.

Jeder dieser Überfälle hatte schwerwiegende Folgen für die Dörfer am Passweg. Überall wurden waffenfähige Männer zur Unterstützung der Garnison verpflichtet, Frauen, Kinder und Alte mussten die Feldarbeit allein bewältigen. Die Soldaten forderten Lebensmittel und Pferde, die Schmiede hatten Waffen zu fertigen, Gerber und Sattler Rüstungsteile, die Heiler behandelten die Verwundeten. Das Dorf, in dem Kvanagh lebte, war immer am schlimmsten betroffen, denn es lag ganz am Ende des Tals unterhalb des Passes von Gárbeth, noch näher am Anfang des Gebirgssteiges als die Feste der Garnison. Es war immer wieder diese Stelle, an der die Soldaten die Eindringlinge aus Onyl stellten, die Stelle, an der die Angreifer noch zusammengedrängt den Steig herabkamen, die Männer König Archals aber genügend Bewegungsfreiheit besaßen, um sie in die Zange zu nehmen. Jede Schlacht hinterließ dem Dorf verwüstete Felder, von denen allenfalls noch wenig Ernte zu erwarten war, und tote Soldaten, die schnellstmöglich bestattet werden mussten. Es kam immer wieder vor, dass spielende Kinder oder Frauen auf der Suche nach Pilzen, Kräutern und Beeren auf halb verweste Leichen oder Skelette stießen.

Auch in Kvanaghs siebzehntem Sommer schickte König Celtern seine Soldaten wieder über die Passhöhe. Es war eine kleinere Gruppe als noch ein Jahr zuvor, als er das Tal zuletzt überfallen hatte, aber sie war gut gerüstet und kam mit einer neuen Taktik. Es schien so, als hätte König Celtern schließlich eingesehen, dass es nicht gelingen konnte, die Garnison, die unten im Tal die Grenze sicherte, mit großer Macht zu überrennen, weil sich zu wenige seiner Soldaten gleichzeitig auf dem Steig bewegen konnten.  Stattdessen hatte er die klügsten Köpfe seines Reiches beauftragt, etwas zu erfinden, das es seiner Armee ermöglichte, bis ins Tal vorzudringen, ohne auf dem Weg schon entscheidende Verluste zu erleiden.

Nun drangen die Soldaten im Schutz einer tragbaren Deckung vor, eines Verhaus aus Holz, der mit Metallplatten beschlagen war. Er bestand aus einzelnen Elementen, die leicht, aber trotzdem fest waren und einfach miteinander verhakt werden konnten. Die ersten Reihen hielten die Platten vor sich, die anderen über sich, es war nahezu unmöglich, auch nur einen einzigen Angreifer mit dem Pfeil zu treffen, und die Metallbeschläge schützten das Holz vor Brandpfeilen. Mit zwei Stacheln in den Boden gerammt und mit einem dritten verkeilt, waren sie in wenigen Augenblicken so fest verankert, dass König Archals Männer den Sturmangriff, der eine Bresche schlagen und den Kampf Mann gegen Mann eröffnen sollte, erfolglos abbrechen mussten. Nur zwei der Männer, die es versucht hatten, behielten ihr Leben und kehrten zurück, die anderen blieben tot zu Füßen der Eindringlinge liegen.

König Archals Mannen mussten zurückweichen, und Kvanagh befürchtet das Schlimmste für sein Dorf. Er wusste nicht, wovor er mehr Angst haben sollte – davor, nicht länger als Knabe verschont zu werden, wenn die Männer zu den Waffen gerufen wurden, oder vor Brandschatzung und Vergewaltigungen, wenn König Celterns Soldaten durchzogen?

Doch der Kommandant der Eindringlinge schien ein kluger Taktiker zu sein. Er wusste, dass die letzte Schlacht noch nicht geschlagen war, dass er die Disziplin seiner Soldaten wahren musste, und dass er seine Truppe verwundbar machte, wenn er gestattete, die Deckung zu öffnen, um über das Dorf herzufallen. Die Soldaten der Garnison waren zurückgewichen, aber sie waren noch in der Nähe. Die Kampfkraft, die sie durch den Verlust der Sturmspitze eingebüßt hatten, war nicht gravierend, auch wenn es gute Leute gewesen waren, und Verstärkung würde vielleicht einige Zeit brauchen, aber der Kommandant der Garnison konnte jederzeit nach ihr schicken und würde sie bekommen. Bis dahin mussten der Passübergang und das Vorland gesichert sein, um weitere Truppen aus Onyl nachführen zu können.

 

II

Die Menschen in Kvanaghs Dorf wussten, dass das Schicksal nur kurz an ihnen vorübergegangen war. Aus taktischen Erwägungen waren sie zunächst verschont worden, aber sollten die Soldaten aus Onyl tatsächlich die Oberhand behalten, dann würden sie sich schadlos halten. Nachrückende Soldaten, die wussten, dass sie an dieser Stelle mit keinem Widerstand zu rechnen hatten, würden rauben, was immer sie fanden, und ihre niedrigsten Gelüste an allen ausleben, derer sie habhaft wurden. Vielleicht würden sie die Umgebung über Wochen belagern, denn König Archal würde nicht zulassen wollen, dass König Celterns Soldaten auch nur einen Fuß breit weiter ins Land vorrückten, und ihnen weitere Truppen entgegenwerfen, die sie aufhalten sollten.

Kvanaghs Vater und die anderen wichtigen Männer des Dorfes berieten, was zu tun war. Dabei gab es eigentlich nichts, was sie hätten tun können: Sie konnten das Dorf nicht einfach im Stich lassen, nicht nur, weil es auf den Feldern zu viel zu tun gab und die Menschen auf die Ernte angewiesen waren, sondern auch, weil der einzig denkbare Unterschlupf, eine Höhle weit oben in einem engen Seitental, nicht für alle Platz bot. Man hätte höchstens Alte, Frauen und Kinder dorthin schicken können, aber das hätte die Gefahr für sie kaum verringert. Sobald die Vorräte, die sie mitführen konnten, aufgebraucht gewesen wären, wären sie darauf angewiesen gewesen, dass ihnen Nachschub gebracht wurde, eine Versorgungsroute, die  nur zu leicht gekappt oder dazu verwendet werden konnte, das Versteck aufzuspüren. Kamen die Männer nicht mehr mit den Nahrungsmitteln durch, dann war den Menschen im Versteck der Hungertod sicher, und einmal entdeckt, wären sie einem Überfall schutzlos ausgeliefert gewesen. Nein, es blieb wohl nur, auszuharren, alles von Wert zu verstecken und auf die Soldaten König Archals zu hoffen. Die waren auch nicht zimperlich, wenn sie Hindernisse aus dem Weg räumten, Männer in die Armee zwangen oder Lebensmittel, Kleidung und die Dienste des örtlichen Heilers verlangten, aber sie wussten, was ihnen blühte, wenn sie eine verlässliche Steuerquelle des Königs zum Versiegen brachten.