Kerzen & Schaukeln

Cover der Kurzgeschichte Kerzen & Schaukeln

Solange Dominik denken konnte, fand die Weihnachtsfeier mit der gesamten Familie bei ihm zu Hause statt. Der Grund dafür war simpel: Im Haus, das er mit seinen Eltern bewohnte, war am meisten Platz. Mit der versammelten Verwandtschaft waren sie zu zehnt, und man wollte ja auch nicht zu beengt sitzen, vor allem, wenn jeder etwas auszupacken und auszuprobieren hatte. Auch das hatte sich eingebürgert: Auch die, die Heiligabend schon zu Hause feierten, hoben sich die Bescherung bis zur großen Feier am ersten Weihnachtstag auf.

 

Wie in jedem Jahr fiel die Verwandtschaft zum Nachmittagskaffee ein: beide Großelternpaare, Dominiks Onkel mit Anhang und zwei Großtanten, die eine verwitwet, die andere nie verheiratet gewesen. Die jüngste Generation war dabei dünn besetzt, neben Dominik selbst hielt nur noch seine Cousine die Fahne hoch, und es sah auch nicht so aus, als würde sich das noch ändern.

 

Charlotte war zwölf und damit knapp ein Jahr jünger als Dominik. Sie sahen sich nicht oft, eigentlich nur bei Familienfeiern, aber wenn sie sich trafen, dann verstanden sie sich gut und hatten viel Spaß zusammen. Natürlich saßen sie nebeneinander am Tisch, und obwohl ihre Hobbys durchaus unterschiedlich waren, ging ihnen der Gesprächsstoff nie aus. Dominik fuhr Mountainbike-Downhill und hatte mit Parcours-Laufen angefangen, Charlotte hielt sich beim Hockey fit. Außerdem sang sie in einem Jugendchor und arbeitete an der Schülerzeitung ihrer Schule mit. Da die Schülerzeitung auch als PDF auf der Schulhomepage zum Download angeboten wurde, hatte Dominik alle Artikel seiner Cousine gelesen und fand, dass Charlotte durchaus Talent hatte. Allein daraus ergaben sich immer wieder interessante Gesprächsthemen, zusätzlich zum Alltag, Sport und Anekdoten aus den jeweiligen Freundeskreisen.

 

***

 

Nach dem Kaffee wurde beschert. Dabei verteilte sich die Gesellschaft etwas: Die beiden Großväter, die sich gut verstanden, gingen nach draußen auf die Terrasse, wo der väterlicherseits, also der gemeinsame von Dominik und Charlotte, seine Pfeife rauchen konnte. Die Mütter räumten den Tisch ab und blieben in der Küche hängen, auch eine der Großmütter gesellte sich dazu. Dominik und Charlotte setzten sich im Schneidersitz vor dem Weihnachtsbaum auf den Boden, dort hatten sie Platz und waren niemandem im Weg. Auch das hatte schon Tradition, schon als Krabbelkinder hatten sie dort ihre Decke liegen gehabt, auf der sie gespielt hatten.

 

Beide hatten einen kleinen Stapel Geschenke vor sich, von den Eltern, von Onkel und Tante, und von den Großeltern. Nach und nach packten sie aus, und jeder schaute immer wieder mal neugierig zum anderen, was der bekommen hatte und wie die Reaktion darauf ausfiel.

 

Dominik freute sich vor allem über einen Gutschein für einen zweitägigen Parcours-Kurs bei einem erfahrenen Läufer. Auch das Buch, das Charlottes Eltern ihm geschenkt hatten, eine Art Reiseführer mit empfehlenswerten Downhill-Strecken, gefiel ihm. Er hatte zwar seine Stammstrecke und suchte sich Informationen über Alternativen im Internet, aber was er da fand, war nicht immer verlässlich. Vor allem legten seine Eltern Wert darauf, dass die Pisten, die er fuhr, offiziell genehmigt waren oder wenigstens von den zuständigen Behörden ausdrücklich geduldet wurden, und leider gab es in der Community ein paar Leute, die sich darum überhaupt nicht scherten. Dominik hielt sich an die Regeln, denn er wollte keinen Ärger.

 

***

 

Während Dominik und Charlotte sich über ihre Geschenke freuten und Spaß zusammen hatten, zogen am Tisch dunkle Wolken auf. Am Anfang merkten die Kinder kaum etwas davon, sie kümmerten sich nicht weiter um die Gespräche der Erwachsenen. Doch irgendwann drang auch zu ihnen durch, dass die Debatte am Tisch intensiver wurde, es wurde lauter und nachdrücklicher gesprochen. Dabei konnte Dominik auch gar nicht mehr vermeiden, das eine oder andere aufzuschnappen, und er hörte heraus, dass es um eine geplante Gesetzesänderung ging. Offenbar sollte damit die Möglichkeit geschaffen werden, dass bestimmte Arzneien von den Krankenkassen bezahlt wurden, die nicht oder nicht für die betreffenden Krankheiten im Katalog standen. Offensichtlich gab es da unter Eltern und Großeltern grundsätzlich gegensätzliche und verfestigte Positionen, die vehement verteidigt wurden, und Großtante Helene – das war die immer ledige – nutzte die Gelegenheit, um ihre diversen Gebrechen zu erwähnen, samt der jeweils verordneten Medikamente.

 

Dominik versuchte, den Disput auszublenden, aber es funktionierte nicht so recht, und er merkte, wie seine gute Laune schwand. Er kannte das schon, denn auch wenn die meisten Familienfeiern in dieser Runde wirklich angenehm waren – wenn das Gespräch sich einmal über ein kontroverses Thema hochgeschaukelt hatte, dann erholte sich die Stimmung davon auch nicht mehr. Selbst wenn irgendwann jemand aus der Debatte ausstieg, um zu verhindern, dass sie vollends aus dem Ruder lief, das verkrampfte Bemühen danach, bloß nichts Falsches zu sagen, killte die Stimmung genauso wie ein offener Streit.

 

„Lotte, erzähl doch mal, wie du im Sommer...“, rief Dominiks Tante irgendwann zu Charlotte herüber. Charlotte hob abwehrend die Hände. „Bitte nicht, Mama!“, bat sie. „Außerdem weiß ich gar nicht...“ „Natürlich war es der Tee“, insistierte ihre Mutter. Dominik schloss daraus, dass seine Cousine krank gewesen war und ein bestimmter Tee dagegen geholfen hatte, zumindest nach Ansicht seiner Tante; Charlotte schien davon ja nicht überzeugt zu sein.

 

Am Tisch fühlten sich beide Seiten bestätigt. Charlottes Mutter wischte Charlottes Einwand einfach weg, dass sie nicht wusste, ob sie die Linderung dem Tee verdankte, die verwitwete Großtante dagegen betonte, dass Charlotte die Wirkung in Abrede gestellt hatte, was so ja auch nicht stimmte.

 

Dominik sah, wie seine Cousine die Lippen zusammenkniff. Schlimm genug, wenn die Erwachsenen nicht in der Lage waren, sachlich zu diskutieren, aber mussten sie dann unbedingt auch noch allen anderen alles verderben? Er sah es schon kommen, dass Charlotte zum Blitzableiter wurde, obwohl sie die Letzte war, die etwas für die gegensätzlichen Meinungen am Tisch konnte.

 

Kurz entschlossen stemmte er sich vom Teppich hoch. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er zu Charlotte. Sie nickte, wahrscheinlich dachte sie, er müsste mal Getränke wegbringen. Was er wirklich vorhatte, würde sie schon früh genug merken, und er hoffte, dass ihr seine spontane Idee gefallen würde.

 

***

 

Fünf Minuten später war Dominik zurück. „Hast du Lust, ein bisschen rauszugehen?“, fragte er seine Cousine. „Ich könnte frische Luft brauchen.“ „Ich auch“, pflichtete Charlotte ihm bei, und Dominik sah, dass sie verstanden hatte.

 

Seine Mutter war ganz entschieden nicht begeistert. „Es ist Weihnachten“, wandte sie ein. „Ja, schon“, räumte Dominik ein. Er wollte nicht voll auf Konfrontationskurs gehen, aber nachgeben wollte er auch nicht. „Aber deswegen muss man doch nicht die ganze Zeit in der Bude sitzen.“ „Lass sie doch!“, sprang sein Vater ihm zum Glück bei. „Ist doch klar, dass ihnen langweilig ist, wenn hier die ganze Zeit nur Erwachsenen-Themen diskutiert werden.“

 

So ganz überzeugt schien Dominiks Mutter danach immer noch nicht zu sein, aber sie ließ sich breitschlagen. Vielleicht wollte sie vermeiden, dass es über die Frage, ob die Kinder raus durften oder nicht, zu noch mehr Streit kam.

 

Die Kinder verabschiedeten sich, wobei Dominik wohlweislich vermied, zu versprechen, dass sie zum Abendessen zurück sein würden. Im Flur nahmen sie ihre Jacken vom Haken, und Dominik einen Rucksack, den er dort bereitgestellt hatte. Er merkte, dass Charlotte in fragend ansah, und legte mahnend den Zeigefinger über die Lippen. Wenn sie jetzt fragte, was er in diesem Rucksack hatte, dann würde seine Mutter das vielleicht hören. Dann würde sie sich natürlich auch fragen, was für Zeug er mit nach draußen schleppte, und eine überzeugende Ausrede hatte er sich nicht zurechtgelegt. Was hätte er denn sagen sollen? Seine Mutter durfte den Rucksack nicht sehen, fertig.

 

Aus diesem Grund vergewisserte er sich auch, dass die Außenbeleuchtung aus war, ehe er die Haustür öffnete. So würde seine Mutter allenfalls Umrisse erkennen können, falls sie ihnen durchs Fenster nachsah; wenn er und Charlotte nach links gingen, würden sie auch bald von der Hecke gedeckt werden.

 

***

 

„Okay, wohin entführst du mich?“, bohrte Charlotte nach, als sie weit genug weg waren vom Haus. „Für einen Spaziergang brauchst du keinen Wanderrucksack.“ „Stimmt“, räumte Dominik rundheraus ein. „Ich sag’s dir trotzdem nicht.“ Er grinste. „In zwei Minuten sind wir nämlich da, dann siehst du’s selbst.“

 

Er hatte nicht lange überlegen müssen, wo er mit Charlotte eine friedvollere Weihnacht erleben konnte als bei ihm zu Hause, wo die Erwachsenen sich nur einig waren, dass sie sich nicht einig waren. Nicht allzu weit entfernt gab es einen großen Spielplatz, den Charlotte auch noch kennen musste. Sie wohnte zwar in einem anderen Teil der Stadt und kannte sich in Dominiks Ecke nur wenig aus, aber als sie noch kleiner gewesen waren, waren sie bei den Familienfeiern oft zwischen Kaffee und Abendessen dorthin gegangen. Doch sie konnte ja nicht in seinen Kopf gucken, also konnte sie auch nicht wissen, dass er den Spielplatz zweckentfremden wollte.

 

Erst als sie in den Weg einbogen, der von der Straße zum etwas zurückgesetzt liegenden Spielplatz führte, kam ihr ein Verdacht. „Der Spielplatz?“, vergewisserte sie sich, und Dominik nickte. „Aber keine Sorge, nicht zum Schaukeln und Rutschen“, beruhigte er sie. „Es sei denn, du willst unbedingt.“

 

Er rechnete nicht ernsthaft damit, dass Charlotte damit anfangen würde; aus dem Alter waren sie raus, und einen kalten Hintern hätte sie sich auch geholt. Aber der Spielplatz hatte noch mehr zu bieten als Rutsche, Schaukel und Klettergerüst: vor allem einen großen Spielturm mit mehreren Plattformen und Stegen, Rutsche, Kletternetz und Hangelparcours. Unter einer hölzernen Rampe, die vom Sandkasten aus nach oben zu einer der Plattformen führte, war mit Holzbalken ein Teil des Unterbaus so verkleidet worden, dass ein kleiner Raum entstanden war. In der Fantasie von Generationen von Kindern war dieser Raum schon Wohnung, Raumschiff, Bäckerei und vieles mehr gewesen – für Dominik war es jetzt ein geschützter Platz, um Weihnachten zu feiern.

 

Das war sein Plan, und unter den staunenden Blicken seiner Cousine packte er aus. Er hatte an alles gedacht, zumindest hoffte er das: Essen und Getränke, eine dicke Kerze, die Licht und etwas Wärme spenden würde, und an seinen Schlafsack und Decken, damit sie nicht froren.

 

Charlotte lächelte, als er die Kerze so in den Sand steckte, dass sie nicht umfallen konnte, und sie anzündete. „Du willst hier weiterfeiern?“, folgerte sie. Dominik nickte. „Ist vielleicht nicht so schön geschmückt wie zu Hause, aber dafür haben wir nicht die ganze Zeit die Streitereien im Ohr.“ „Finde ich gut“, meinte Charlotte. „Ich bin gerne bei euch, aber nicht, wenn sich alle streiten.“

 

***

 

Wenn jemand zufällig vorbeigekommen wäre und einen Blick in den Verschlag unter dem Spielturm geworfen hätte, dann hätte er wahrscheinlich den Kopf geschüttelt. Von außen musste es ja auch ärmlich wirken, Weihnachten auf dem Spielplatz, mit einer Kerze und in Decken gehüllt, aber der Eindruck täuschte. Es war wirklich gemütlich: Die Decken polsterten den Boden und hielten die Kälte ab, die Kerze verbreitete anheimelndes Licht, und Charlotte ließ ihr Handy leise Musik abspielen, eine Mischung aus Weihnachtsliedern und aktuellen Songs, die sie beide mochten. Dominik hatte zwei Thermosflaschen mit heißem Wasser, Teebeutel und Becher mitgebracht, und vom Abendessen hatte er auch genug abgezweigt, dass Charlotte und er satt wurden. Gut, dass seine Eltern alles schon am Vormittag vorbereitet hatten! Langweilig würde ihnen auch nicht werden, Dominik hatte zwei Kartenspiele in den Rucksack geworfen und ein Ratespiel, für das man nicht viel Platz brauchte.

 

***

 

Um kurz vor sieben gab Dominiks Handy einen Signalton von sich. „Mama“, stellte Dominik trocken fest, noch ehe er einen Blick auf die eingegangene Nachricht geworfen hatte. „Sie will, dass wir zurückkommen.“

 

„Wo bleibt ihr?“, hatte seine Mutter getextet. „Das Essen ist gleich fertig.“ „Wir sind schon beim Nachtisch“, schrieb Dominik zurück. Das stimmte, sie hatten direkt gegessen, weil Dominik es zwar geschafft hatte, das Essen in der Mikrowelle aufzuwärmen, aber auf die Schnelle keine Behälter gefunden hatte, in denen es über längere Zeit halbwegs warm geblieben wäre.

 

Er rückte etwas näher an Charlotte heran und machte ein Selfie. Dabei hielt er das Handy so, dass gut zu sehen war, wie gemütlich sie sich eingerichtet hatten. Er schickte das Foto ab, und ein paar Augenblicke später kam schon die Antwort.

 

Dominik hatte mit einer erbosten Nachricht seiner Mutter gerechnet, eigentlich hatte er sogar gedacht, sie würde anrufen, und sich darauf eingerichtet, ihr klarzumachen, warum sie lieber so Weihnachten feierten. Doch zu seiner Überraschung war diesmal sein Vater der Absender, und er hatte nur einen Satz geschrieben: „Ihr habt Weihnachten verstanden.“

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