0:0 um Mitternacht

Bei dieser Geschichte stand ich nicht ganz unerwartet vor einem Problem, das ich in Bezug auf das Thema schon einmal hatte: Woher ein passendes Bild für das Cover nehmen? Ich danke der kolumbianischen Sportfotografin Laura Rincón, die dieses Foto auf der Plattform pexels bereitgestellt und bereitwillig die Rückfragen beantwortet hat, die ich noch hatte.

 

Cover der Kurzgeschichte 0:0 um Mitternacht

Die Tribünen der Jahn-Halle, der kleineren der beiden großen Sporthallen der Stadt, leerten sich zügig. Mit den Siegerehrungen waren eben die Hallenfußball-Stadtmeisterschaften der D-Junioren und D-Juniorinnen zu Ende gegangen. Ein bisschen leerer war es früher schon geworden, die Mannschaften, die vor dem Halbfinale ausgeschieden waren, waren meistenteils schon nach Hause gefahren. Publikum außer den Eltern gab es in dieser Altersklasse ohnehin kaum.

 

Einige Jungen und Mädchen vom FV 07 freuten sich, dass sie noch bleiben durften. Ihr Verein hatte nicht nur sein Zuhause auf dem Platz neben der Halle, er fungierte in diesem Jahr auch als Ausrichter der Stadtmeisterschaften. Das ging nicht ohne Unterstützung der Eltern, die den Kuchen- und Getränkeverkauf und den Imbiss-Stand besetzten und an vielen weiteren Stellen hinter den Kulissen wirkten. Es würde noch eine Weile dauern, alles wegzuräumen, was nicht stehen bleiben konnte, obwohl die Stadtmeisterschaften am nächsten Tag mit der C- und B-Jugend fortgesetzt werden würden. Solange hatten die Spielerinnen und Spieler, die zu den betroffenen Eltern gehörten, das Spielfeld für sich, und diese Chance ließen sie sich nicht entgehen. Tagsüber hatten sie deutlich mehr Pause als Spielzeit gehabt, das blieb nicht aus bei so vielen Mannschaften und nur einem Feld. Dabei hatten die Verantwortlichen den Spielplan schon entzerrt und einen Teil der Vorrunde bei den Jungen schon am Freitagnachmittag ausspielen lassen.

 

„Sollen wir ein Neunmeterschießen machen?“, schlug Smilla vor, nachdem die Kinder sich die drei vorhandenen Bälle ein paar Minuten lang zugepasst oder aufs Tor geschossen hatten. Sie spielte auf dem Feld im offensiven Mittelfeld oder Stürmerin und war auch an diesem Tag die treffsicherste Schützin ihrer Mannschaft gewesen. „Als Training, falls wir bei der Kreismeisterschaft ins Neunmeterschießen müssen.“ „Ihr kommt doch gar nicht bis ins Halbfinale!“, behauptete Siljan, ihr Zwillingsbruder, der bei den Jungen dieselben Positionen spielte wie Smilla bei den Mädchen. „Du bist doch nur neidisch!“, gab Smilla zurück. Das stimmte, Siljan hätte auch gern die Hallenkreismeisterschaft gespielt, bei der sich die besten Mannschaften der Stadt mit den Topteams der umliegenden Städte maßen. Aber dafür qualifizierten sich nur jeweils die ersten drei, die Jungen waren bis in die Zwischenrunde gekommen, dort aber als Dritte der Gruppe ausgeschieden. Sie hatten gegen den VfB gewonnen und gegen den späteren Gruppensieger, die Viktoria, verloren. Genauso hatte die Germania abgeschnitten, dabei allerdings zwei Tore mehr geschossen als die Jungen vom FV 07 und nur eins mehr kassiert. Siljan und seine Kameraden hätten also den direkten Vergleich gewinnen müssen, waren aber nicht über ein Unentschieden hinausgekommen und so denkbar knapp ausgeschieden. Im Gesamtklassement durften sie sich als Fünfte betrachten, auch wenn dieser Rang nicht offiziell ermittelt wurde; die Sportfreunde als Dritter der zweiten Zwischenrundengruppe hatten nur einen Zähler geholt.

 

Die Mädchen dagegen waren Vizestadtmeisterinnen geworden. Sie hatten das Finale sicher erreicht, sich dann aber der Mannschaft von der Ballsport-Union geschlagen geben müssen. Der Verein war in der Stadt unangefochten die Nummer 1, was Mädchen- und Frauenfußball anging, und hatte immer die besten Spielerinnen. Auch vom FV 07 war zu Beginn der Saison eine Spielerin dorthin gewechselt und wollte nach ihrem letzten Jahr in der U13 den Sprung in die B-Juniorinnen-Bezirksliga schaffen.

 

„Ihr seid doch nur Zweite geworden, weil ihr keine richtigen Gegner hattet!“, behauptete Siljan. „Das waren ja gar keine echten Mannschaften.“

 

Auch damit hatte er einen Punkt. Das Teilnehmerfeld bei den Mädchen war insgesamt kleiner, 7 Mannschaften im Vergleich zu 19 bei den Jungen, und von diesen Mannschaften spielten tatsächlich nur drei regulär in der Liga. Die Viktoria, der SV Rot-Weiß und die Sportfreunde hatten offiziell nur eine B-Juniorinnen-Mannschaft. Sie waren mit denjenigen Mädchen angetreten, die vom Alter her noch in der U13 spielen durften; das waren naturgemäß die, die sich sonst hinter den zwei, drei Jahre älteren Mannschaftskameradinnen anstellen mussten. Dass solche offiziell nicht existierenden Mannschaften an der Hallenmeisterschaft teilnehmen durften, war eine schöne Sache, einerseits für die Spielerinnen, die bei den Meisterschaften der U17 wohl nicht aufgestellt worden wären, und andererseits auch für den Ausrichter, weil so ein ausreichend großes Teilnehmerfeld für ein Turnier zusammenkam, das die Bezeichnung auch verdiente. Der VfB hatte überhaupt keine Mädchenmannschaft, aber ein halbes Dutzend Mädchen in der D- und E-Jugend.

 

Laufkundschaft, wie man so schön sagte, waren diese nur für die Halle aufgestellten Mannschaften jedoch alle nicht. Die Spielerinnen trainierten genauso regelmäßig wie die Mädchen vom FV 07, einige waren schon lange dabei, und durch das Training mit Älteren brachten manche eine beträchtliche Körperlichkeit mit. Smillas Klassenkameradin Isabel war beim SV Rot-Weiß auch Stammspielerin in der U17-Mädchenmannschaft, obwohl sie die Jüngste war.

 

Objektiv konnten beim FV 07 beide Mannschaften mit ihrem Abschneiden zufrieden sein. Die Mädchen hatten das wohl beste Ergebnis erreicht, das möglich war, wenn man einen Übergegner wie die Ballsport-Union im Teilnehmerfeld hatte. Die Jungen hatten ebenfalls ein gutes Turnier gespielt und einige Mannschaften hinter sich gelassen, die sich ebenfalls etwas ausgerechnet hatten. In der Vorrunde hatten sie sogar einen der Topfavoriten am Rand einer Niederlage gehabt.

 

Smilla beschloss, die Bemerkung ihres Zwillings unkommentiert stehenzulassen. Siljan würde sich schon wieder einkriegen, so ungewohnt war die Situation für ihn auch nicht. Smilla war nach ihrem ersten E-Jugend-Jahr in die Mädchenmannschaft gewechselt, und seitdem war es schon oft vorgekommen, dass sie mit einem Sieg nach Hause gekommen war, Siljan dagegen mit einer Niederlage. Umgekehrt passierte es genauso, beide hatten lernen müssen, damit umzugehen.

 

Arthur, der bei den Jungen in der Abwehr spielte und das Tor hütete, wenn der etatmäßige Torwart, Pascal, fehlte, wusste das. Er kannte Smilla und Siljan seit dem Kindergarten und hatte schon bei den Minikickern mit ihnen zusammen gespielt. Sorgen, dass das Geplänkel eskalieren würde, machte er sich nicht, aber es brachte ihn auf eine Idee. Doch das durfte kein Außenstehender mitbekommen, sonst war der Plan direkt im Eimer.

 

***

 

Um halb zwölf öffnete sich die Tür eines Hauses in einer schmalen Straße mit lauter kleinen Einfamilienhäusern. Zwei Gestalten huschten ins Freie, kaum auszumachen in ihrer dunklen Kleidung und ohne das Licht der kleinen Lampe über dem Eingang, deren Bewegungsmelder sie wohlweislich ausgeschaltet hatten.

 

Ihre Fahrräder hatten Smilla und Siljan in weiser Voraussicht an der nächsten Straßenecke abgestellt. Sie waren an ein Geländer gekettet, das Autofahrer daran hindern sollte, in der engen Kurve den Bürgersteig mitzunehmen und dabei Fußgänger in Gefahr zu bringen. Normalerweise standen sie im Schuppen, aber der war direkt neben dem Schlafzimmerfenster der Eltern. Dass die Zwillinge keine Erlaubnis zu diesem nächtlichen Ausflug eingeholt hatten, verstand sich von selbst, denn bekommen hätten sie die nie im Leben.

 

Etwas unwohl war ihnen schon, als sie durch die stillen Straßen zur Jahn-Halle radelten. Angst, überfallen zu werden, hatten sie nicht, ihre Sorge war, dass jemand sie sah, der ihren Eltern ein Licht steckte. Und hoffentlich begegneten sie keinem Streifenwagen! Zwei knapp Zwölfjährige würde die Besatzung um diese Uhrzeit garantiert anhalten.

 

Den Kameraden, die sie vor der Halle trafen, ging es sicherlich nicht anders. Selbst Vincent, der so getan hatte, als wäre es für ihn das Normalste der Welt, nachts heimlich auszurücken, hatte insgeheim bestimmt genauso viel Bammel wie die anderen.

 

Arthur hatte die Idee gehabt, dass man ausspielen müsste, wer denn nun wirklich besser war, Mädchen oder Jungen. Man hätte das auch den Trainern vorschlagen können, sie hätten sicherlich nichts gegen ein freundschaftliches Match gehabt. Allerdings war es schwer, zu den Trainingszeiten der Mannschaften an Hallenzeiten zu kommen, überhaupt zu irgendeiner Zeit, zu der man die Kinder hätte zusammenrufen können. Doch weil seine Mutter beim FV 07 Jugendleiterin war, hatte sie einen Schlüssel zur Halle, und Arthur wusste, wo er war.

 

Vollständig waren beide Mannschaften nicht, denn nicht alle konnten sich heimlich aus dem Haus schleichen. Bei den Mädchen waren es neben Smilla noch Leyla, Emily, Alba und Vicky, sie bekamen also so gerade eben eine Mannschaft zusammen. Leonie hatte angekündigt, dass sie kommen würde, wenn sie konnte, das hatte davon abgehangen, ob ihr Vater nach der Spätschicht gleich ins Bett ging oder nicht; offenbar war er jedoch noch aufgeblieben. Mara hätte garantiert gekonnt, sie lebte allein mit ihrer Mutter, und die hatte im Krankenhaus, wo sie arbeitete, Nachtschicht, traute sich aber nicht. Die anderen Mädchen respektierten das, sie spürten ja an sich selbst, dass es Überwindung kostete, sich heimlich rauszuschleichen.

 

Die Jungen hatten immerhin zwei Optionen auf der Bank, Arthur und Siljan waren natürlich dabei, außerdem Amin, Kevin, Hannes, Vincent und Bene. Siljan ärgerte sich, dass Pascals ältere Schwester ausgerechnet an diesem Wochenende ausnahmsweise mal nicht bei ihrem Freund schlief. Weil die Wohnungstür knarrte und unter seinem eigenen Fenster die Treppe war, die vom Hof in den Keller führte, hätte Pascal nur durch ihr Zimmer abhauen können, das ging nun natürlich nicht. Sein Pech sorgte aber in gewisser Weise für Fairness, denn so mussten beide Mannschaften auf die angestammte Besetzung im Tor verzichten. Bei den Mädchen war Leonie die Stammtorhüterin, Emily, die sonst auf der rechten Seite spielte, ihre Vertretung.

 

Arthur wartete, bis alle da waren, die kommen konnten. Leonie hatte eine Nachricht an Smilla geschickt, dass sie nicht auf sie zu warten brauchten, bei den Jungen meldete sich Marcel, dass er anders als gedacht nicht wegkam. „Dann können wir“, stellte Arthur fest. Den Schlüsselbund hatte er schon in der Hand, er schloss auf, und die Kinder huschten lautlos in die Halle.

 

Im Licht seiner Handytaschenlampe fand Arthur den Sicherungskasten, schloss ihn auf und schaltete die Lichter ein, die sie brauchten: natürlich die Lampen über dem Spielfeld, die Notbeleuchtung im Foyer, damit sie nirgends gegen knallten, und das Licht in einem Teil der Kabinen. Das ging nur zentral, damit kein Spaßvogel einfach mal zwischendurch das Licht ausschalten und damit vielleicht eine Panik auslösen konnte.

 

Die Kinder zogen sich um und versammelten sich auf dem Spielfeld. Aufzubauen brauchten sie nichts, alles war schon vorbereitet für die Spiele am nächsten Tag. Am Tisch der Turnierleitung fanden sie die Bälle und auch die Tüte mit den Leibchen. Die Jungen streiften die gelben Hemden über, damit die Unterscheidung auch in der Hektik des Spiels gesichert war.

 

Sie einigten sich auf ein Spiel über zweimal 20 Minuten. Im Turnier hatten die Partien nur 8 Minuten gedauert, aber das war natürlich, weil so viele Spiele auszutragen gewesen waren. Außerdem verständigten die Kinder sich darauf, die 4-Sekunden-Regel auszusetzen, die besagte, dass jeder Standard innerhalb von 4 Sekunden ausgeführt werden musste und die Torleute den Ball in der eigenen Hälfte grundsätzlich nur 4 Sekunden kontrollieren durften, egal in welcher Spielsituation. Diese Regel, die Zeitspiel verhindern sollte, hätte bloß zu Streit geführt. Um sie anzuwenden, brauchte es eine neutrale Instanz, die entschied, ab wann die Zeit gezählt wurde, tagsüber hatten das die Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen gemacht. Davon ab sollten alle Regeln so gelten wie beim Turnier.

 

Hannes, der zusammen mit Bene zunächst auf der Bank Platz nahm, stellte an seinem Handy den Timer auf 20 Minuten. Das Signal, wenn die Zeit abgelaufen war, würde nicht so laut sein wie die Hallensirene, aber zumindest die beiden Jungen, die draußen saßen, würden es hören. Es war ja auch nicht so laut in der Halle wie tagsüber, weil es kein Publikum gab, und keine anderen Mannschaften, die auf ihren Einsatz warteten. Die Kinder hatten überlegt, ob sie die Anlage einschalten sollten, die die Sirene und die Anzeigetafel steuerte, es dann aber doch lieber gelassen. So sicher war sich Arthur mit der Bedienung nicht, und wenn sie etwas verstellten und es nicht zurückgestellt bekamen, dann würde es am nächsten Morgen auffallen.

 

Ein Münzwurf entschied die Wahl zwischen Seitenwahl und Anstoß zugunsten der Jungen. Vincent, der bei den Jungen die Kapitänsbinde trug, wählte den Anstoß, für die Mädchen entschied Smilla, dass sie so stehen bleiben wollten, wie sie angetreten waren. Eigentlich war Leonie die Kapitänin, aber die fehlte ja. Smilla fand, dass es egal war, in welche Richtung sie spielten, das Feld wurde an allen Seiten von Banden begrenzt, und das Wetter spielte in der Halle auch keine Rolle.

 

In Ermangelung einer Pfeife rief Hannes laut „Los!“, als er den Timer startete. Siljan versuchte, die Mädchen direkt zu überrumpeln, er ließ sich den Ball von Kevin kurz vorlegen und schoss dann von der Mittellinie mit dem Vollspann aufs Tor. Doch so leicht ließen sich die Mädchen nicht austricksen, der Ball kam nicht einmal fünf Meter weit. Smilla, die ihren Zwillingsbruder kannte und fast damit gerechnet hatte, dass er es so versuchen würde, hatte den Fuß dazwischen und holte direkt einen Einkick für die Mädchen heraus. Der Ball prallte zurück zu Siljan und ging von dessen Knie senkrecht nach oben weg, bis die Hallendecke ihn stoppte. Doch selbst wenn der Ball durchgekommen wäre – Emily war keine schlechte Stellvertreterin für Leonie, es hätte schon sehr viel passieren müssen, dass sie den Schuss aus der Entfernung nicht gehalten hätte.

 

***

 

Siljan musste zugeben, dass die Mädchen ihm und seinen Kameraden ebenbürtig waren. Nach zehn Minuten stand es 2:2, und das wurde dem Spielverlauf gerecht. Beide Mannschaften spielten sich ihre Chancen heraus, gegen auf der anderen Seite aber meistens durchaus gut organisierte Defensiven.

 

Doch einen Vorteil hatten die Jungen tatsächlich: ihre Ersatzspieler. Die Mädchen hatten eine gute Ausdauer, aber Hallenfußball war wahnsinnig schnell, viel schneller als das Spiel draußen. Mit nur vier Feldspielern oder Spielerinnen musste jeder und jede mehr laufen, und die Banden verhinderten viele kleine Erholungspausen, die sich sonst ergeben hätten, wenn der Ball im Aus war. Die Jungen konnten regelmäßig wechseln, immer zwei konnten sich kurz ausruhen, um dann mit frischer Kraft wieder ins Spiel zu kommen.

 

Hannes schlug vor, eine Pause zu machen. Arthur unterstützte die Idee, Amin zuckte mit den Schultern, was wohl heißen sollte, dass es ihm egal war. Vincent dagegen wollte auf jeden Fall weiterspielen, die Mädchen hätten schließlich gewusst, worauf sie sich einließen. Bene hielt sich wie meistens an Vincent, auch Kevin wäre wohl eher dagegen gewesen, den Vorteil aus der Hand zu geben, wollte aber auch nicht als Blödmann dastehen. Bei ihm spielte vielleicht mit rein, dass er – das war ein offenes Geheimnis – Leonie mehr mochte, als er zugeben wollte; die war zwar nicht da, hätte es aber trotzdem erfahren, das war klar.

 

Die Blicke richteten sich auf Siljan. Warum ausgerechnet er es offenbar entscheiden sollte, war unklar, vielleicht, weil er und Smilla den Auslöser für das ganze Abenteuer geliefert hatten. Besonders wohl fühlte er sich damit nicht. „Meinetwegen“, sagte er schließlich und versuchte, es klingen zu lassen, als ginge es ihn nichts an. Natürlich wollte er Smilla beweisen, dass er und die anderen Jungen besser waren als die Mädchen, aber er musste zugeben, dass es nicht fair gewesen wäre, deren Ermüdung auszunutzen. So fies war er nicht, und selbst ohne jeden Sportsgeist betrachtet, wäre es ein Eigentor gewesen: Die Mädchen hätten jederzeit argumentieren können, dass das Spiel vielleicht ganz anders ausgegangen wäre, wenn sie auch hätten wechseln können. Das hätte einen noch so deutlichen Sieg der Jungen wertlos gemacht.

 

Damit war es beschlossen, und es gab eine Pause von fünf Minuten. Das tat gut, und die Jungen mussten sich eingestehen, dass sie die Pause auch brauchen konnten. Sie hatten alle zwei Minuten gewechselt, das hatte ehrlicherweise auch nur so gerade eben gereicht, um wieder zu Atem zu kommen.

 

***

 

Das Entgegenkommen hätte sich für die Jungen fast gerächt, aber das hatten sie selbst zu verantworten. Obwohl sie wussten, dass Bene den Ball vor der Unterbrechung über die Bande in den Geräteraum geklärt hatte, das Spiel also mit Ballbesitz für die Mädchen weitergehen musste, richteten sie sich nicht richtig darauf ein. Vicky führte den Einkick schnell aus und schickte Leyla, die so in eine gute Schussposition kam. Leyla sah, dass Arthur ziemlich weit vor dem Tor stand, und versuchte es mit einem Lupfer. Arthur kam gerade noch mit den Fingerspitzen an den Ball und konnte ihn an die Latte lenken. Siljan drängte seine Zwillingsschwester ab, damit sie nicht nachsetzen und den Ball ins Tor schieben konnte. Arthur sprang auf und sicherte den Ball.

 

Insgesamt wurde das Spiel wieder ausgeglichener, nachdem es vor der Unterbrechung so ausgesehen hatte, als würde es bald zugunsten der Jungen kippen. Zur Halbzeit stand es 5:4 für Smiljan und seine Kameraden, es hätte aber auch umgekehrt stehen können. Smilla hatte mit einem Doppelpack zweimal die Führung für die Mädchen erzielt, die Jungen durch Tore von Vincent und Amin ausgeglichen, wobei Siljan beide Male vorgelegt hatte. Bene war kurz vor der Halbzeit der Ausgleich gelungen; nachdem Leyla einen Eckball von Amin in seine Richtung abgefälscht hatte, hatte er nur noch den Fuß hinzuhalten brauchen.

 

Nach dem Seitenwechsel erhöhten die Jungen mit dem ersten Angriff auf 6:4, doch die Mädchen schlugen umgehend zurück. Emily kam nach einem langen Ball in den Lauf von Siljan dem Adressaten zuvor und knallte das Ding lang und schmutzig hinten raus. Hannes’ missglückter Versuch, den Ball zu stoppen, um Siljan abermals steil zu schicken, machte aus dem Flachschuss eine Bogenlampe, die für Smilla zur Kopfballvorlage wurde. Arthur, gegen die Bewegungsrichtung erwischt, war machtlos.

 

Hätte es Zuschauer gegeben, sie hätten viel Freude gehabt an diesem spannenden Match. Viele mitunter packende Torszenen, Glanzparaden von Arthur und Emily, engagierte Zweikämpfe, die aber immer fair blieben. Dafür, dass es keinen Schiedsrichter, keine Schiedsrichterin gab, der oder die die Wogen glättete, gab es auch wenig Streit. Wer zu spät kam und statt des Balls den Fuß traf, stand dafür ein, und als der Ball aus kurzer Distanz Leylas allerdings deutlich abgespreizten Arm traf, erfanden die Kinder spontan eine neue Regel für solche nicht auflösbaren Situationen. Leyla stritt nicht ab, dass ihr Arm die Körperfläche vergrößert hatte, die Jungen bestanden nicht darauf, dass die Armhaltung unnatürlich und Zeit genug gewesen war, den Arm wegzuziehen. „Werfen wir eine Münze!“, schlug Leyla vor. „Wer gewinnt, kriegt den Ball, Einkick.“

 

Auf diese Weise kamen die Jungen zwar zu ihrem Standard, aber aus weitaus weniger vielversprechender Position. Doch sie beklagten sich nicht, denn sie wussten, dass das Handspiel von einem Schiedsrichter oder einer Schiedsrichterin vielleicht auch gar nicht gepfiffen worden wäre. Dann wären sie möglicherweise sogar noch in einen Konter gelaufen.

 

Die ursprüngliche Bedeutung des Spiels trat dabei immer mehr in den Hintergrund. Es machte einfach Spaß, sich mit einem ebenbürtigen Gegner ein derart spannendes und hochkarätiges Match zu liefern. Jeder und jede konnte zeigen, was er oder sie konnte, und auch mal etwas Neues ausprobieren, ohne dass die anderen meckerten.

 

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Das Endergebnis passte zur Karnevalszeit, Hannes erzielte eine halbe Minute vor Schluss sein einziges Tor in dieser Nacht und glich damit zum 11:11 aus. Das Ergebnis entsprach dem Kräfteverhältnis, es hatte Phasen gegeben, in der die eine oder andere Mannschaft etwas mehr vom Spiel gehabt hatte, aber alles in allem waren Jungen und Mädchen gleich stark gewesen.

 

Richtig bedacht hatten sie diesen Fall alle nicht, der eine oder die andere vielleicht auch, weil sie insgeheim sicher gewesen waren, die Begegnung zu gewinnen. Bei den Stadtmeisterschaften war es in diesem Jahr zu keinem Unentschieden in den K.-o.-Spielen gekommen, aber wenn, wäre das Prozedere klar gewesen: Neunmeterschießen, bis ein Sieger feststand. Die Kinder diskutierten, aber nur kurz: Eigentlich alle waren dagegen, das Spiel auf diese Weise zu entscheiden.

 

„War doch ein geiles Spiel“, fasste Siljan die allgemeine Stimmung zusammen. „Hat richtig Bock gemacht, und wir waren beide richtig gut.“ Tatsächlich wurmte es ihn gar nicht, dass sie nicht gewonnen hatten, oder wenigstens kaum. Die Mädchen waren gleichwertige Gegnerinnen gewesen, und eigentlich war ihm auch klar gewesen, dass sie nicht schlechter spielten als er und seine Mannschaftskameraden. Was er Smilla nachmittags an den Kopf geworfen hatte, das war nur aus der Enttäuschung heraus gewesen, dass er und die anderen Jungen die Kreismeisterschaften verpasst hatten, aber auch das hatte er inzwischen verdaut. Der fünfte Platz war auch ein Ergebnis, auf das die Jungen stolz sein konnten, sie hatten Mannschaften hinter sich gelassen, die man vielleicht etwas stärker eingeschätzt hätte.

 

„Stimmt, das war wirklich cool“, pflichtete Smilla ihrem Bruder bei. „Sollten wir eigentlich öfter machen. Nicht nachts abhauen, meine ich, aber uns treffen und zocken.“

 

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Um halb zwei lag Smilla wieder im Bett. Sie war hundemüde, und sie wusste, dass sie am Morgen platt sein würde. Aber das war es wert, das gemeinsame nächtliche Fußballspiel war einfach ein tolles Erlebnis gewesen, das sie zusammengeschweißt hatte. Sie hatten nicht nur Spaß gehabt, sie hatten sich auch zusammengerauft und gezeigt, dass sie bei aller Rivalität trotzdem Freunde sein konnten.

Cover der Kurzgeschichte 0:0 um Mitternacht