Das Silvester-Turnier

Das Silvester-Turnier ist eine kleine Fortsetzung zu Pfiff! – Aus dem Tagebuch einer Jungschiedsrichterin und spielt ein knappes Jahr nach dem Ende des Buches am letzten Tag des Jahres. Die Handlung ist in sich abgeschlossen, nimmt aber den einen oder anderen Rückbezug auf das Buch.

 

Cover der Kurzgeschichte Das Silvester-Turnier

Als ich zwei Tage vor Heiligabend einen Blick in mein E-Mail-Postfach werfe, finde ich zu meiner Überraschung eine Mail von Florian, der bei uns im Fußballkreis für die Ansetzung der Schiedsrichter zuständig ist. Das überrascht mich deshalb, weil ich keinen Anlass sehe, warum er mir schreiben sollte. Die Einladungen für die Hallenstadtmeisterschaften sind längst raus, ich werde wie schon im letzen Jahr sowohl bei den Mädchen, als auch bei den Damen pfeifen. Für die Ansetzungen für die Rückrunde ist es dagegen noch zu früh, die werden erst im Januar kommen. Vielleicht ein Weihnachtsgruß?

 

Nein, eher ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, das ich aber nach Weihnachten erst auspacken darf: Florian fragt an, ob ich Lust habe, bei einem Silvesterturnier in der Nähe von Winterberg zu pfeifen. Jemand, den er vom Studium her kennt und der da im Verein mitarbeitet, hat wohl gefragt, ob er jemanden als Verstärkung schicken kann.

 

Lust habe ich, gar keine Frage, aber wie stellt Florian sich das vor? Das sind über hundert Kilometer, ich habe keinen Führerschein, und mit der Bahn ist da auch schwierig hinzukommen, zumal am Feiertag und so am Ende der Welt, wie die Halle liegt. Wenn Florian dafür eine Lösung hat, dann bin ich dabei.

 

Weil das per Mail bloß ein langes Hin und Her gibt, rufe ich ihn direkt an. Florian beruhigt mich, dass ich auf den ÖPNV angewiesen bin oder auf jemanden, der mich fährt, hat er wohl bedacht. Hin müsste ich mit der Bahn fahren, sein Freund würde mich dann mit dem Auto in Winterberg am Bahnhof abholen und zur Halle bringen. Abends würde Florian dann kommen, um mich abzuholen, so dass ich rechtzeitig zur Silvesterfeier wieder zu Hause wäre.

 

Er macht mir den Mund wässrig, denn das Teilnehmerfeld ist ziemlich erlesen. Keine der zwölf Mannschaften spielt niedriger als Bezirksliga, zwei kommen sogar aus der Regionalliga. Ich bin im Sommer in die Damenbezirksliga aufgestiegen, was schon nicht wenig ist dafür, dass ich da gerade erst siebzehn geworden war, und Regionalliga ist schon eine richtig große Hausnummer. Gut, das Hallenturnier zählt als Freundschaftsspiel, da kann man schon mal Schiedsrichter ansetzen, die normalerweise nicht so hoch pfeifen, wie die beteiligten Mannschaften spielen, aber gleich drei Ligen höher?

 

Florian sagt, dass er mir das ohne Weiteres zutraut. Sozusagen hinter vorgehaltener Hand verrät er mir, dass ich sowieso schon auf dem Zettel stehe für den Aufstieg in die Landesliga. Das lasse ich jetzt mal unkommentiert, weil mich der Gedanke schwindelig macht. Wie gesagt, ich bin erst siebzehn, und zusammen mit meiner Schiedsrichterkameradin und inzwischen auch guten Freundin Annika Stockel, die aber auch mit einer Ausnahmegenehmigung mit vierzehn schon den Lehrgang machen durfte, bin ich die einzige in dem Alter im ganzen Kreis, die überhaupt schon überkreislich pfeifen darf.

 

Das heißt aber nicht, dass es nicht ältere und erfahrenere Schiedsrichterinnen gäbe, die Florian ins Sauerland schicken könnte. Ich weiß ja, dass er große Stücke auf mich hält, aber trotzdem ehrt es mich, dass er zuallererst bei mir anfragt, ob ich das Turnier an Silvester pfeifen will. Ich muss natürlich erst noch meine Eltern fragen, ob ich darf, aber freiwillig lasse ich mir die Chance nicht entgehen. Ich verspreche Florian, mich am gleichen Tag noch mal zu melden und ihm Bescheid zu geben, denn sein Ex-Studienkollege wartet sicher auch auf Rückmeldung.

 

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Meine Eltern gucken erst mal reichlich kariert, als ich ihnen von dem Turnier erzähle. Daran, dass ich fast an jedem Wochenende und in so ziemlich allen Ecken unseres Kreises unterwegs bin, haben sie sich längst gewöhnt, aber das ist jetzt doch eine ganz andere Hausnummer. Aber sie wissen auch, dass ich kein kleines Kind mehr bin, und Florian kennen sie zwar nicht persönlich, haben aber genug über ihn gehört, um zu wissen, dass auf ihn Verlass ist. Außerdem bin ich mir sicher, dass Julian mitkommen wird, mein Freund, über den ich auch zum Fußball gekommen bin, ich werde also nicht allein auf weiter Flur stehen. Das sind mehr als genug Argumente zu meinen Gunsten, und nach dem Abendessen kann ich Florian Vollzug melden.

 

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Ich glaube, so früh bin ich an keinem Silvester mehr aufgestanden, seit ich aus dem Alter raus bin, wo kleinere Kinder um keinen Preis der Welt länger als bis sechs oder halb sieben im Bett zu halten sind. Julian hat bei mir geschlafen, und wir haben beschlossen, unterwegs zu frühstücken, damit wir nicht noch früher aufstehen müssen. Mein Vater bringt uns freundlicherweise zum Bahnhof, auch das spart uns Zeit, denn so viele Busse fahren so früh am Samstagmorgen noch nicht.

 

Es ist knackig kalt, aber trocken. Auf dem Bahnsteig pfeift der Wind, aber in der dicken Winterjacke und mit einem Becher heißem Kakao in der Hand ist es auszuhalten. Außerdem müssen wir nicht lange warten, bis der Zug kommt, und der ist gut geheizt. Ich freu mich auf das Turnier, das wird bestimmt spannend, und es fällt mir nicht ganz leicht, nach dem Frühstück noch mal die Augen zuzumachen.

 

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Irgendwann muss ich doch eingeduselt sein, denn als Julian mich weckt, höre ich gerade noch den Rest der Durchsage, dass wir gleich in Winterberg sein werden. Ich schätze, ich habe noch eine gute Stunde geschlafen, das sollte reichen, dass ich nicht vorzeitig durchhänge, wenn wir heute Abend Silvester feiern.

 

Vor dem Feiern stehen aber noch ein Dutzend Spiele an, die ich zu pfeifen habe. Den Spielplan habe ich schon bekommen, Vorrunde mit zwölf Mannschaften in drei Gruppen, von denen jeweils die ersten beiden und zusätzlich die beiden besten Dritten in die Zwischenrunde einziehen, die in zwei Gruppen ausgetragen wird, und dann eben noch Halbfinale, Spiel um Platz drei und Endspiel. Außer mir werden nur noch zwei andere Schiedsrichterinnen da sein, das weiß ich von Florian. Er hat mir auch erzählt, dass sie in dem Kreis mit Schiedsrichtern wohl generell noch knapper dran sind als die meisten anderen Kreise, die auch nicht über einem Überangebot zu leiden haben. Dieses Jahr sind außerdem wohl extrem viele über den Jahreswechsel in Urlaub oder sonstwie nicht greifbar, deshalb mein Einsatz.

 

Am Bahnhof von Winterberg werden Julian und ich schon erwartet, und der Mann im schwarzen Trainingsanzug mit dem Wappen des gastgebenden Vereins SV Tanne auf der Brust weiß auch sofort, wer von den aussteigenden Fahrgästen seine Klienten sind. Kunststück, außer uns steigen nur eine Frau mit zwei kleinen Kindern, ein Typ im Businessanzug und eine alte Frau aus, die Verwechslungsgefahr ist also gering.

 

Wir werden begrüßt und machen uns rasch miteinander bekannt. Matthias Kowalski, so der Name unseres Chauffeurs, ist beim SV Tanne Jugendleiter und Koordinator für Frauen- und Mädchenfußball in Personalunion. Er kutschiert uns fast eine halbe Stunde durch weiß gepuderte Wälder, die Landschaft ist wunderschön, und ich schicke einen stummen Dank an Florian, dass er mich dafür ausgewählt hat, die Tour zu machen.

 

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In der Halle herrscht schon reger Betrieb, diejenigen, die hinter den Kulissen alles organisieren, sind wahrscheinlich schon seit Stunden am Wirbeln, und auch ein großer Teil der Mannschaften scheint schon eingetroffen zu sein.

 

Als ich das Spielfeld betrete, stockt mir fast der Atem. Ich hätte mir denken können, dass ein Regionalligist nicht freiwillig auf abgeschabtem Parkett antreten würde, aber die Ausstattung hier – alter Schwede! Kunstrasen, aber die gute Sorte, Rundumbande, digitale Anzeigetafel und Tribünen mit mindestens dreitausend Plätzen. Julian hat die Reihen gezählt und es dann ausgerechnet. Obwohl es bis zum ersten Anstoß noch eine Dreiviertelstunde dauert, ist die Tribüne schon gut gefüllt, und es ist nicht nur der Anhang der Spielerinnen, der da sitzt. Ich finde das aufregend, vor so vielen Zuschauen habe ich noch nie gepfiffen.

 

Während Julian sich einen Platz sucht, wo ich ihn später auch wiederfinde, werde ich in die Schiedsrichterkabine geführt und treffe dort zum ersten Mal die beiden Sportskameradinnen, mit denen ich heute im Wechsel die Spiele leiten werde. Die eine, Marie, ist auch nicht viel älter als ich und erzählt mir, dass sie normalerweise Kreisliga pfeift und in der Bezirksliga an der Linie steht. Das heute ist das erste Mal, dass sie Mannschaften aus höheren Ligen pfeift. Die andere, Natalie, ist schon Mitte zwanzig, pfeift bis zur Regionalliga bei den Damen und bis zur Landesliga bei den Herren. Ihr Trikot kann nicht mehr ganz verbergen, dass sie sich demnächst eine Auszeit nehmen wird, um sich dem allerjüngsten Schiedsrichter-Nachwuchs zu widmen.

 

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Die Routine mit Spielberichten und allem, was sonst noch dazugehört, ist hier nicht anders als zu Hause, und das gibt mir Ruhe. Die beiden Kameradinnen lassen mir den Vortritt, das ist möglicherweise mit der Turnierleitung abgesprochen, die nach dem Anstoß nicht nur meinen Namen durchsagt, sondern sich auch ausdrücklich dafür bedankt, dass ich extra aus dem Ruhrgebiet angereist bin, um die hiesigen Schiedsrichterinnen zu unterstützen.

 

Das Auftaktspiel entspricht von der Ligenzugehörigkeit der Mannschaften her genau dem Finale der Stadtmeisterschaft, das ich im Januar pfeifen durfte: Die Gastgeber vom SV Tanne sind in der Landesliga beheimatet, der Gegner vom FC Westfalen in der Verbandsliga.

 

Beide wollen unbedingt drei Punkte, das ist der Gruppenkonstellation geschuldet. Für beide geht es vermutlich nur um den zweiten Platz hinter der SVG, einem der beiden Regionalligisten, während der ETSV als Bezirksligist in dieser Gruppe nur Kanonenfutter sein dürfte.

 

Entsprechend einsatzfreudig geht es von der ersten Spielminute an zur Sache. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte mich hinter den beiden Sportskameradinnen eingereiht, dann hätte ich Gelegenheit gehabt, vorher mal in die Grundhaltung hier reinzuschnuppern. Ich möchte weder übertrieben streng daherkommen, noch zu lasch.

 

Aber wahrscheinlich rede ich mir das eh nur ein, wie streng ich durchgreife, ist ja auch bei mir selbst schon von Spiel zu Spiel unterschiedlich. Das hängt einfach davon ab, wie die Spielerinnen sich aufführen, in einer insgesamt fairen Partie lasse ich es auch eher mal bei einer Ermahnung bewenden, wo man streng genommen auch eine Karte zeigen könnte, wenn es ohnehin ruppig zur Sache geht, ziehe ich auch schon mal etwas eher gelb. Das ist das berühmte Fingerspitzengefühl, und warum sollte ich mich nicht darauf verlassen, nur weil hier alles ein bisschen größer ist?

 

Ich denke, alles in allem mache ich meine Sache ganz gut, größere Unmutsbekundungen bleiben sowohl seitens des Publikums, als auch seitens der Spielerinnen aus. Klar deutet da manchmal ein Arm einen Einkick an, den ich andersrum gebe, und ein getroffener Fuß wird mal eben schnell zum Ball umetikettiert, aber das gehört einfach dazu, und ich gehe ruhig und manchmal auch mit einem Lächeln darüber hinweg.

 

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Ganz ohne Aufreger ist so ein Hallenturnier wohl nicht über die Bühne zu kriegen. Aber muss denn ausgerechnet ich dabei im Mittelpunkt stehen? Es passiert im ersten Halbfinale bei einer Paarung, die alle erst im Finale erwartet haben. Die SVG hatte im letzten Zwischenrundenspiel Pech und nur unentschieden gegen den Verbandsligisten FFC gespielt, der dann aufgrund des etwas besseren Torverhältnisses Gruppensieger geworden ist. So treffen die beiden Regionalligisten bereits im Halbfinale aufeinander, und keiner von beiden hat Lust, nur das kleine Finale zu spielen.

 

Die SVG führt bis kurz vor Schluss mit 1:0, doch dann kommt eine Spielerin der BSG Kickers zu Fall. Ein Foul war es, da gibt es für mich keinen Zweifel, und mein erster Reflex geht dahin, auf den Punkt zu zeigen. Die Spielerinnen der BSG Kickers freuen sich, eine bessere Chance, zum Ausgleich zu kommen, können sie sich kaum wünschen. Die Damen der SVG dagegen bedrängen mich, nie und nimmer Strafstoß, sagen sie, wenn es überhaupt ein Foul war, dann klar außerhalb. Die Spielführerin übertreibt es, sie drückt mir fast die Nase ins Gesicht, während sie gelb für die zu Fall gekommene Spielerin wegen einer Schwalbe fordert. Karten zu fordern, ist unsportlich, und ihren Umgang mit mir lasse ich mir auch nicht bieten, deshalb ist die SVG-Kapitänin die erste, die verwarnt wird, und weil sie auch diejenige war, die das Foul begangen hat, bekommt sie die zweite Gelbe gleich hinterher.

 

Danach bespreche ich mich kurz mit Marie. Sie ist bei diesem Spiel als Assistentin eingeteilt, die die Wechsel überwacht und mich auf Regelverstöße aufmerksam macht, die hinter meinem Rücken passieren. Sie ist sich auch nicht hundertprozentig sicher, tendiert aber dazu, dass das Foul eher außerhalb passiert ist, auch wenn die betroffene Spielerin anschließend vom eigenen Schwung noch über die Linie getragen worden ist. Es war auf jeden Fall knapp, ganz sicher auflösen kann ich es nicht; ich entscheide mich, den Strafstoß zurückzunehmen und stattdessen Freistoß zu geben. Die Forderung der Kickers-Trainerin, dann auch die zweite Gelbe für die Spielführerin zurückzunehmen, weise ich dagegen zurück. Das Foulspiel hat es ja schließlich gegeben, ob jetzt im oder knapp vor dem Strafraum macht für die persönliche Strafe gegen die Spielerin, die es begangen hat, keinen Unterschied, und es bleibt auch unsportlich, einer Gegenspielerin, die man gerade selbst von den Beinen geholt hat, eine Schwalbe zu unterstellen.

 

Die Spielerinnen von den Kickers sind natürlich enttäuscht, dass sie jetzt doch nur den Freistoß bekommen, aber den immerhin aus einer gefährlichen Position, und sie spielen ab sofort in Überzahl.

 

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Vor dem Finale lasse ich den Blick über die Tribüne schweifen. Wo ist Florian? Eigentlich wollte er längst hier sein, er wollte zusehen, dass er so zeitig zu Hause wegkommt, dass er die Finalrunde noch mitbekommt. Ich finde ihn nicht, und das liegt nicht nur daran, dass die Tribüne rappelsturzvoll ist. Mit Sicherheit hätte er sich zu Julian gesetzt, den hätte er schon gefunden, aber neben Julian sitzen zwei junge Frauen, beide ziemlich aufgedonnert, die sich vor Lachen über was auch immer nicht wieder einkriegen.

 

Erst als ich nach der Siegerehrung in die Schiedsrichterkabine komme, sehe ich, dass mein Handy blinkt: Irgendwer hat angerufen. Florian, der uns sagen will, dass er sich verspätet?

 

Ich schaue nach, Florian hat es tatsächlich versucht, insgesamt dreimal, und mir auch eine Nachricht auf Band gesprochen. Da scheint wirklich was schiefgelaufen zu sein, so dass er uns nicht pünktlich abholen kann. Schön ist das nicht, denn hier sind wir ziemlich ab vom Schuss, und ich denke, die werden hier jetzt so schnell wie möglich alles aufräumen und die Halle zuschließen. Hoffen wir also, dass Florian es schafft, bevor wir Matthias bitten müssen, unseretwegen zu warten. Draußen würden wir innerhalb kürzester Zeit anfrieren, ich schätze, wir haben vier oder fünf Grad unter null. Ist es gemein, wenn ich unter diesen Umständen froh bin, dass Julian bei mir ist? Immerhin bedeutet das im Umkehrschluss, dass er genau wie ich jetzt blöd in der Landschaft steht, aber ich glaube nicht, dass er sich deswegen wünscht, er wäre zu Hause geblieben.

 

Um erst mal Klarheit zu gewinnen, höre ich endlich die Nachricht ab, die Florian mir auf der Mailbox hinterlassen hat. Ok, er hat’s noch deutlich übler getroffen, wird die Nacht nämlich aller Voraussicht nach im Auto verbringen. Auf der Autobahn hat’s gekracht, eine Karambolage mit mindestens einem halben Dutzend Autos, es hat wohl zum Glück keine Schwerverletzten oder gar Toten gegeben, aber die Bahn ist erst mal dicht und wird es wohl auch noch ein paar Stunden bleiben. Florian ist nicht involviert, aber ziemlich nah dran, und die Polizei muss den Stau, der sich gebildet hat, mühsam von hinten aufrollen, den Verkehr von der Autobahn ableiten und alles, was sich auf den Kilometern zwischen der letzten Ausfahrt und der Unfallstelle angesammelt hat, irgendwie zurückführen. Das geht nur ganz langsam voran, und Florian ist froh, dass Helfer unterwegs sind, die die stecken gebliebenen Autofahrer mit Decken, heißen Getränken und etwas zu essen versorgen.

 

Was uns betrifft, hat er uns hinterlassen, dass wir uns an Matthias wenden sollen, wenn der uns nicht schon von sich aus angesprochen hat. Hat er nicht, da hatte er auch noch gar keine Gelegenheit zu, weil er am Tisch der Turnierleitung voll und ganz damit beschäftigt ist, die Spielberichte abzuschließen, und was sonst noch so an Papierkram zu erledigen ist.

 

Als er uns kommen sieht, macht er sich aber von der Arbeit frei und fragt uns, ob wir schon von Florian gehört haben. Ja, haben wir, bestätige ich. Ich erkundige mich, ob er mehr weiß, aber er hat auch nur die Informationen, die Florian mir auch auf die Mailbox gesprochen hat: Autobahn dicht, Wegkommen ungewiss. Seine Frau hat sich darum gekümmert, dass wir für die Nacht unterkommen, sie hat für uns kurzfristig ein Zimmer in der einzigen Pension des Dorfes besorgt. „Ich hätte euch auch unser Gästezimmer gegeben“, sagt er. „Aber das ist leider schon belegt, die Schwester meiner Frau ist mit ihrer ganzen Familie bei uns.“

 

Julian und ich nehmen den guten Willen für die Tat. Wir haben auch keinen Grund, uns zu beklagen, das Zimmer ist gemütlich und die Wirtin der Pension echt nett. Sie gibt uns einen Schlüssel, der nicht nur für die Zimmertür passt, sondern auch für die Haustür, damit wir kommen und gehen können, wie wir wollen. Sie selbst wäre aus dem Alter raus, wo sie das Feuerwerk noch groß interessiert, sagt sie, aber sie verstünde doch, dass wir uns das wenigstens aus der Nähe ansehen wollen, wenn wir schon nicht mit unseren Familien Silvester feiern können.

 

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Unsere Eltern wissen noch gar nichts von ihrem Glück. Meine Eltern haben mich ohnehin nicht eingeplant fürs Anstoßen um Mitternacht, dass ich bei Julian schlafe, war längst ausgemachte Sache. Trotzdem sollten sie wissen, dass ich nicht ein paar Straßen weiter bin, sondern immer noch im Sauerland, und Julian muss natürlich auch mit seinen Eltern telefonieren, damit sie sich keine Sorgen machen. Beide Elternpaare machen keinen großen Aufriss, warum auch? Gut untergebracht sind wir, fürs Abendessen ist gesorgt, und ansonsten sind wir alt genug, um eine Nacht in der Fremde zu verbringen; Julian ist ja eh schon volljährig, und bei mir dauert es auch nur noch ein halbes Jahr.

 

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Nach dem Abendessen gönnen wir uns noch eine kurze Auszeit, doch rechtzeitig vor dem Jahreswechsel brechen wir zu einem Spaziergang auf, der uns aus dem Dorf herausführt. Nicht dass wir uns hier auch nur ansatzweise auskennen würden, aber wofür hat die Menschheit Smartphones und Karten-Apps erfunden? Wir haben uns einen Weg ausgeguckt, der uns auf eine kleine Anhöhe führt. Von da aus müssten wir eine schöne Aussicht haben, wenn das Feuerwerk losgeht, haben wir uns ausgerechnet, und damit behalten wir Recht. Zu unseren Füßen liegt das Dorf, und in der Ferne sehen wir die Lichter weiterer Ortschaften.

 

Rasch tippen wir Neujahrsgrüße an Eltern und Freunde, natürlich auch einen an Florian, und schicken sie ab. Fünf Minuten vor Mitternacht klingelt mein Handy, es ist Nora, meine beste Freundin, die auch alles andere als unschuldig daran ist, dass ich seit nunmehr zweieinhalb Jahren mit Julian zusammen bin. Sie hatte eigentlich um Mitternacht bei Julian vorbeikommen wollen, das hat sich natürlich erledigt. Sie findet es total romantisch, Silvester im nicht gerade tief verschneiten, aber doch zumindest weiß gezuckerten Sauerland, draußen in der Natur, und da kann ich ihr nur zustimmen. Das Feuerwerk klingt merkwürdig gedämpft zu uns herauf, aber wir sehen alles im Dorf unter uns und auch die Raketen, die in weiter entfernten Ortschaften aufsteigen. Hell klingt dazwischen das Schlagen der Kirchenglocke, wir umarmen und küssen uns, und dann stehen wir nebeneinander, jeder einen Arm um den anderen gelegt, auf der Kuppe des Hügels und schauen uns das Feuerwerk an.

Cover der Kurzgeschichte Das Silvester-Turnier