Die Wächterin, die überall war

Cover der Kurzgeschichte Die Wächterin, die überall war

Dass Grundschulkinder ab und an mit dem einen oder anderen Kratzer nach Hause kamen, war mehr oder weniger normal. Sie stießen beim Laufen irgendwo an, fielen beim Spielen hin oder konnten nicht schnell genug ausweichen, wenn jemand etwas durch die Gegend warf. Doch wie Stella an einem Mittwoch Anfang Juni zugerichtet war, das toppte alles, was ihre Mutter bis dahin mit ihr erlebt hatte. Sie hatte Kratzer an beiden Armen, einen an der Wange, eine Schürfwunde am Schienbein und offenbar eine Rippe geprellt; wenn sie dort drückte, tat es weh. Auch ihre Kleidung hatte gelitten, T-Shirt und Rock waren dreckig, und die knielangen Leggins, die sie unter dem Rock trug, hatten einen Riss.

 

Die Mutter schlug bildlich gesprochen die Hände über dem Kopf zusammen, als sie ihre Zehnjährige so sah. „Um Himmels willen!“, entfuhr es ihr. „Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja schlimm aus!“ Stella war nicht einfach bloß gestolpert und hingefallen, davon wäre sie nicht derart verschrammt gewesen, das sah man auf den ersten Blick. So, wie sie aussah, war sie eher von einem Radler über den Haufen gefahren worden, oder von einem dieser E-Scooter, die sich seit einiger Zeit immer mehr ausbreiteten. Da las man ja immer wieder von Unfällen, weil die Leute mit den Scootern nicht umgehen konnten und viel zu schnell fuhren.

 

„Ich hab Hermann verteidigt, weil Paul ihn wieder geschubst hat und alles“, erklärte Stella. „Hast du dich geprügelt?“, hakte ihr Mutter nach. „Du hättest doch einen Lehrer holen können!“, fuhr sie fort, als Stella nickte. „Ging nicht“, widersprach Stella. Sie war sich sicher, dass sie das Richtige getan hatte, auch wenn sie das mit einigen Schrammen bezahlt hatte. „Das war schon auf dem Weg nach Hause, ich hätte ja erst wieder zur Schule rennen müssen… Das hätte doch viel zu lange gedauert!“

 

Ihre Mutter kniff die Lippen zusammen. Es gefiel ihr nicht, dass ihre Jüngste sich eine Schlägerei geliefert hatte, aber konnte sie Stella einen Vorwurf machen, weil sie sich für einen Mitschüler eingesetzt hatte? Im Gegenteil, es war lobenswert, wenn Stella sich gegen Ungerechtigkeit einsetzte, aber trotzdem – eine Prügelei?

 

Nach dem, was Stella erzählte, war Paul der Klassenrüpel, allerdings gerissen, sodass er selten erwischt wurde. Den Lehrern fiel er auf, weil er selten etwas zum Thema beizutragen hatte und dafür umso lieber mit Zwischenrufen störte. Der Sportlehrer ermahnte ihn oft, weil er beim Völkerball gezielt auf den Kopf warf und beim Fußball viel zu wild in die Zweikämpfe ging. Seine fiesen Streiche, Beleidigungen und Hiebe hob er sich jedoch für Momente auf, in denen die Erwachsenen nicht hinsahen. Meistens war sein Kumpel Louis dabei, aber der dachte nicht selbst und machte, was Paul ihm sagte.

 

Hermann war ihr Lieblingsopfer, wahrscheinlich, weil von ihm kein Widerstand zu befürchten war. Er war Paul – und auch den meisten anderen in der Klasse – körperlich klar unterlegen und schüchtern. Vor allem aber galt er als uncool, weil seine Mutter ihn behandelte wie einen Dreijährigen. Auch Stella hatte kein nennenswertes Interesse daran, mit ihm befreundet zu sein, aber trotzdem fand sie es nicht in Ordnung, wie er drangsaliert wurde.

 

Auf dem Heimweg hatte sie gesehen, wie Paul Hermann eingeholt und versucht hatte, ihm den Rucksack vom Rücken zu reißen. Wahrscheinlich hätte er Hermanns Sachen auf der Straße verteilt, vielleicht auch die Schulbücher in einen Hundehaufen geworfen oder den ganzen Rucksack vor ein fahrendes Auto. Stella hatte ihm zuerst zugerufen, er sollte aufhören, und als Paul nicht auf sie gehört hatte, war sie hingerannt und hatte ihn von Hermann weggezerrt.

 

Damit hatte sie Hermann tatsächlich die Flucht ermöglicht, doch dafür hatte Paul sich an sie gehalten. Stella hatte sich gewehrt, und das hatte Paul erst so richtig wütend gemacht; er war keinen Widerstand gewöhnt, und normalerweise ließ er sich nur auf eine körperliche Auseinandersetzung ein, wenn er wusste, dass er stärker war. Stella hatte zwar kräftig einstecken müssen, das sah man ihr ja auch an, aber nach einem Schlag gegen die nächste Generation seiner Familie hatte er vorerst von ihr abgelassen. Das war nicht fair, das wusste Stella selbst, aber Paul war auch nicht fair gewesen, sodass der Schlag eindeutig unter Notwehr fiel.

 

***

 

Stellas Mutter telefonierte mit der Klassenlehrerin und bat sie, sich der Sache anzunehmen. Der Angriff auf Hermann und anschließend auf Stella war zwar weder in der Schulzeit passiert, noch auf dem Gelände der Schule, aber die Schule war trotzdem der Verknüpfungspunkt. Außerdem stellte Paul Hermann auch auf dem Schulhof nach, wenn auch nicht so offensichtlich; selbst wenn er nur suggerierte, dass auf dem Heimweg wieder etwas passieren könnte, war das mehr als genug.

 

Sie bezweifelte allerdings selbst, dass der Anruf viel bringen würde. Was Paul auf dem Schulweg machte, lag nicht im Verantwortungsbereich der Lehrer, und Stellas Mutter war sicher, dass dieser Paul das ganz genau wusste. Die Lehrerin hätte also höchstens versuchen können, auf die Eltern einzuwirken, dass sie ihren Sohn davon abhielten, andere Kinder zu mobben, aber ob das etwas bringen würde, war schwer einzuschätzen. Vielleicht würden die Eltern den Gedanken, dass Paul so etwas machen könnte, weit von sich weisen, oder sie waren selbst überfordert… Stellas Mutter wollte ihnen nichts unterstellen, zumal sie sie nur flüchtig von den Elternabenden kannte, aber überzeugt, dass sich so etwas ändern würde, war sie nicht.

 

***

 

Stella wusste, dass Pauls Wut auf sie längst noch nicht verraucht war. Sie – also zu aller Schmach auch noch ein Mädchen! – hatte ihn am Rand einer Niederlage gehabt, das würde er nicht auf sich sitzen lassen. Sie rechnete fest damit, dass er bei nächster Gelegenheit versuchen würde, sie so fertigzumachen, dass sie es nie wieder wagen würde, gegen ihn aufzumucken. Damit er nicht gleich das nächste Mal auf die Bretter ging, würde er sich garantiert auch nicht allein auf sie stürzen.

 

Es passierte am Donnerstagmorgen, und Stella war noch keine hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt. Paul und Louis fingen es geschickt an, warteten nämlich, bis Stella um die erste Ecke herum und damit garantiert aus dem Blickfeld ihrer Mutter heraus war. Paul hatte sich in einem Hauseingang versteckt, sodass Stella ihn nicht zu früh hatte sehen können, und trat ihr in den Weg. Hinter ihr schnitt Louis ihr den Fluchtweg ab und würde sie zumindest aufhalten, bis Paul da war und ihm half, sie zu überwältigen.

 

Auf Armlänge standen Paul und Stella einander gegenüber. „Überraschung!“, sagte Paul und versuchte, es möglichst gefährlich klingen zu lassen. „Damit hast du nicht gerechnet, wie?“ „Doch, irgendwie schon“, versetzte Stella. „Ich kenn dich ja.“ „Ach ja?“, gab Paul zurück. Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihre Selbstsicherheit ihn aus dem Konzept gebracht hatte, aber man sah es trotzdem. Wahrscheinlich hatte er sich ganz genau zurechtgelegt, wie er Stella fertigmachen wollte, aber sie hielt sich nicht an sein Drehbuch, und einen Plan B hatte er nicht. „Du hast dich mit dem Falschen angelegt“, knurrte er. „Aber ich werde dir zeigen, was es heißt, mir in die Quere zu kommen.“ „Ich geh zu Frau Scholz!“, drohte Stella. Frau Scholz war die Klassenlehrerin. „Oh, da hab ich aber Angst!“, höhnte Paul. „Die kann mir gar nichts. Louis wird auf die Bibel schwören, dass du angefangen hast, und was machst du dann? Dann stehen zwei Stimmen gegen eine, und du wirst bestraft.“

 

Im nächsten Moment erklang an der Ecke ein Hüsteln und ließ ihn zusammenzucken. „Dass vor Gericht immer die mit den meisten Zeugen recht haben, stimmt nur in den schlechten Krimis, aus denen du deine Sprüche geklaut hast“, belehrte Stellas große Schwester ihn. Sie war fast 15, und man sah ihr an, dass sie von sieben Jahren Leistungsschwimmen kräftige Muskeln hatte. „Ein echter Richter wägt ab, wie glaubwürdig die Zeugen sind, und Frau Scholz weiß, dass Louis dein bester Freund ist und alles macht, was du sagst.“ Sie kam heran und beugte sich zu Paul herunter, bis ihre Nasenspitze fast seine berührte. „Und du solltest wissen: Ich hab meine Schwester sehr, sehr lieb.“

 

Damit drehte sie sich um und ging davon. Das war beeindruckender, als wenn sie wilde Drohungen ausgestoßen hätte, und für einen Moment war Paul so perplex, dass er keinen Widerstand leistete, als Stella ihn zur Seite schob und an ihm vorbeiging.

 

Doch der Auftritt von Stellas Schwester hatte ihn zwar sichtlich beeindruckt, aber noch traute Stella dem Frieden nicht. Pauls Rachsucht kannte kaum Grenzen, und noch rechnete er sich aus, dass er schon eine Gelegenheit finden würde, ihr eine zu verpassen, ohne dass ihre Schwester ihn sofort am Wickel hatte.

 

***

 

Für rund 400 Meter hatte Stella ihre Ruhe, denn Paul und Louis brauchten Zeit, um abzuchecken, dass ihre große Schwester wirklich weg war, und einen geeigneten Ort für einen neuen Anlauf zu finden. Die Situation ähnelte der von eben, wieder bog Stella um eine Ecke und stand plötzlich vor Paul. Auch die Aufteilung war wieder die gleiche, Paul spielte Wegsperre, und Louis machte hinter ihr dicht.

 

Paul grinste. „Überraschung!“, lästerte er zum zweiten Mal an diesem Morgen. Aber auch zum zweiten Mal zeigte Stella nicht die Reaktion, die er erwartete, diesmal nickte sie einfach nur. Im gleichen Moment war hinter Paul wieder das Hüsteln zu hören, das er schon kennengelernt hatte. „Denk nicht mal dran!“, warnte Stellas Schwester ihn, ehe sie an ihm vorbeiging und um die Ecke bog.

 

Die beiden Jungen begannen zu schwitzen. Zu plötzlich war Stellas Schwester aufgetaucht, an einer Stelle, von der Paul gedacht hatte, dass sie sie niemals so schnell erreichen könnte. Entweder hätte er sie sehen müssen, oder sie hätte einen Umweg machen müssen, der unmöglich in der Zeit zu schaffen war. Paul konnte sich nicht erklären, wie sie es geschafft hatte, an der Ecke zu aufzutauchen.

 

Doch auch wenn ihre große Schwester ihm etwas unheimlich wurde, konnte er sich noch nicht damit abfinden, dass er Stella nicht beikam. Er lauerte ihr tatsächlich noch ein drittes Mal auf, diesmal – was schon echt unverfroren war – fast direkt vor der Schule.

 

Der Ort war allerdings ideal, denn er konnte die Straße in beide Richtungen weit genug überblicken, um sicher zu sein, dass Stellas Schwester nicht in der Nähe war. Es gab auch keine zurückgesetzten Hauseingänge oder Vorgärten, in denen sie sich hätte verbergen können. Paul musste nur aufpassen, dass keiner von deren anderen Schülern merkte, was vor sich ging, aber er rechnete sich aus, dass alles viel zu schnell gehen würde dafür. Stella musste nämlich an einem Seiteneingang vorbei, den sonst nur die Leute von der Müllabfuhr benutzten, wenn sie die Container leerten. Sie fühlte sich am Arm gepackt, und im nächsten Moment wurde sie von der Hecke gegen die Blicke der Passanten abgeschirmt. Falls überhaupt jemand gesehen hatte, wie sie verschwunden war, dann dachte er wahrscheinlich, sie wollte an den Müllcontainern vorbei, um etwas wegzuwerfen.

 

Umso auffälliger war der Schreckensschrei, der im nächsten Augenblick zu hören war, aber der kam nicht von Stella. Der Griff an ihrem Arm verschwand, denn Paul spürte selbst eine Hand an seiner Schulter. „Ich hab noch was vergessen:“, sagte ihre große Schwester. Sie tat so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass sie hier war, obwohl sie Paul nach seiner Einschätzung unmöglich überholt haben konnte. „Wenn Stella irgendwas passiert, wenn sie verprügelt wird, oder wenn ihre Sachen kaputtgemacht werden, dann weiß ich, wer’s war, und die Polizei weiß es auch. DNA-Beweis, das kennst du aus deinen Krimis.“

 

Damit spazierte sie davon, nicht, ohne Stella leicht über den Arm zu streichen. Auch Stella ging weiter und zwängte sich zwischen den Büschen durch, die den Weg vom Containerstellplatz zum Schulhof halb überwuchert hatten. Zurück blieben zwei völlig verdatterte Jungen. Paul und Louis waren kuriert, das hatte Stella an ihren Augen ablesen können. Sie hatte garantiert nichts mehr zu befürchten, und vielleicht bewirkte die Erfahrung ja sogar, dass sie auch Hermann und andere in Ruhe ließen.

 

***

 

„Und, hat er noch was gemacht?“, erkundigte Jana sich am Mittag, als Stella von der Schule nach Hause kam. „Nö“, antwortete Stella. „Er traut sich nicht mal mehr, mich anzugucken. Echt toll, dass ihr das gemacht habt.“ Damit umarmte sie zuerst Jana, dann Nina – manchmal war es schon gut, wenn es die ältere Schwester doppelt gab.

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